Was ist geerdete Spiritualität?
Als ich vor vielen Jahren in regelmäßigen Abständen nach Glastonbury reiste und später dort auch lebte, fiel mir auf, dass die rote Quelle, eine der Heilquellen Avalons, welche ihren Namen durch den hohen Eisengehalt erhält, immer unterschiedlich stark schmeckte. Ich wunderte mich wie es sein konnte und erzählte dies einer Bekannten, welche auch oft nach Glastonbury reiste.
Sie meinte, dass ich am Anfang meiner Reise wohl noch nicht an die Energien Avalons gewöhnt war und die Quelle deshalb stärker schmeckte. Nun da ich gänzlich angekommen war, würde sich dies dadurch zeigen, dass die Quelle weniger intensiv schmeckte!
Ich muss sagen das war eine wunderschön klingende Erklärung, ich war also vollkommen integriert in die Magie Avalons! Für einen Moment zögerte ich, ob ich dies nicht einfach so annehmen sollte, schließlich ist das Leben nüchtern genug und wir sehnen uns doch alle nach ein bisschen Filmromantik! Es war mir dann aber doch zu ab-gehoben, also ließ ich das Ganze erst einmal auf sich ruhen.
Einige Monate später stellte ich dieselbe Frage einer sehr spirituellen, aber auch geerdeten Frau. Ihre Antwort war: „Wahrscheinlich hat es damit zu tun, wie viel es geregnet hat und wie sehr das Quellwasser dadurch verdünnt wurde!“ Bäng! Realität lass nach! Ich muss sagen, so ein bisschen Magie hätte sie mir schon lassen können!
Diese Erfahrung führte mir vor Augen, dass es eigentlich selbstverständlich sein sollte, zuerst nach dem logischsten und naheliegendsten Grund zu suchen. Doch gerade das magische Denken, die Suche nach dem Besonderen, Mystischen und Außergewöhnlichen, ist in der spirituellen Szene weit verbreitet und wirkt auf den ersten Blick oft viel faszinierender und verlockender als eine bodenständige Erklärung.
Ein Mensch der eine geerdete Spiritualität lebt, sucht somit erst einmal nach dem naheliegendsten Grund. Wir beginnen also auf dem Boden der Tatsachen. Werden wir hier nicht fündig, prüfen wir, ob es vielleicht psychologische Faktoren gibt die einen Einfluss haben könnten. Erst wenn alles andere ausgeschlossen ist, suchen wir auf der metaphysischen Ebene nach Gründen und Möglichkeiten!
Wenn wir zum Beispiel regelmäßig Bauchschmerzen haben, gehen wir nicht sofort davon aus, dass unser Ex eine Voodoo-Puppe gebastelt und mit einer Nadel in unsere Magengegend gestochen hat. Wir schauen zuerst nach dem Offensichtlichen. Habe ich etwas Verdorbenes gegessen. Was sagt der Arzt? Wenn medizinisch alles in Ordnung ist, dann frage ich mich, ob es vielleicht psychosomatische Faktoren gibt. Zum Beispiel, wenn die Schmerzen immer Sonntagabend auftreten, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass mir mein Job wortwörtlich auf den Magen schlägt und mir vor dem kommenden Montag schon graut. Erst wenn all das ausgeschlossen ist, bleibt Platz für exotischere Überlegungen.
Ein ganz witziges Erlebnis aus Glastonbury, das so typisch für diesen Ort ist, hat mir diese ungeerdete Spiritualität auf wunderbare Weise vor Augen geführt. Damit die Menschen kostenlosen Zugang zum Wasser der roten Quelle haben, die im Chalice Well Garten entspringt, für den man Eintritt zahlen muss, hat man durch die Außenmauer des Gartens ein Rohr gelegt, sodass man sich das Wasser jederzeit abfüllen kann.
Eines Tages tauchte ein Facebook Post eines jungen Mannes aus der Glastonbury Gemeinschaft auf. Herzzerreißend schrieb er, die rote Quelle sei versiegt, ein erschütterndes Zeichen dafür, dass die heilige Weiblichkeit erneut unterdrückt werde. Eine Botschaft wie gemacht für Glastonbury. Schließlich gibt es dort viele Frauen und auch Männer, die sich auf dem Weg befinden, die Göttin und die weiblichen Mysterien wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Sein Beitrag wurde in Windeseile geteilt.
Unter dem Post entstanden lange Kommentarspalten, in denen ausgiebig darüber philosophiert wurde, was die Ursache für das Versiegen des Wassers sein könnte? Von astrologischen Konstellationen über die letzte Sonnenfinsternis bis hin zu einem Glitch in der Matrix oder sogar Aliens war alles dabei.
Als ich all diese ausgefallenen Theorien las, fragte ich mich als Erstes, ob sich jemand einmal die Mühe gemacht hatte, in den Chalice Well Garten zu gehen, um nachzusehen, ob die Quelle dort wirklich versiegt war und falls ja, ob jemand mit den Mitarbeitern des Gartens gesprochen hatte, was ein möglicher Grund sein könnte. Denn der Facebook Post des jungen Mannes bezog sich lediglich darauf, dass aus dem Rohr kein Wasser mehr kam, was er so interpretierte, dass die gesamte Quelle versiegt sei, dabei ist dieses Rohr nur die Verlängerung der Quelle nach draußen.
Mein zweiter Gedanke war, ob es nicht einfach sein könnte, dass das Rohr durch Blätter, Nadeln oder Schmutz verstopft war, schließlich war Herbst. Als ich diesen Hinweis in den Kommentaren teilte, bekam ich prompt die typischen, etwas belächelnden Reaktionen. Du hast keine Ahnung von den höheren Mysterien des Lebens, bleib du mal schön bei deiner nüchternen Realität.
Natürlich war die Quelle nie versiegt. Sie plätscherte im Garten weiterhin munter vor sich hin. Wahrscheinlich war genau das verstopfte Rohr der Grund und nachdem es vermutlich jemand vom Gartenteam gereinigt hatte, floss das Wasser wie von Zauberhand wieder, ganz ohne die Hilfe von Aliens.
Geerdete Spiritualität ist somit eine Spiritualität, die nahe an der Realität gelebt wird. Logik, Realitätsnähe, Gründlichkeit und Unterscheidungsvermögen sowie eine gewisse Sensationslosigkeit sind Zeichen einer reifen Spiritualität. Wir dürfen träumen und an die Magie glauben. Solange wir nicht vergessen, ab und zu zu prüfen, ob das Problem vielleicht einfach nur an einem verstopften Rohr liegt.
