Rotkäppchen aus schamanischer Sicht

Rotkäppchen aus schamanischer Sicht

Seit es die Menschheit gibt, gibt es Erzählung, Geschichten und Märchen. In den einstigen indigenen Kulturen hatte ein Geschichtenerzähler einen hohen Stellenwert. Er war ein wichtiges Mitglied der Gemeinschaft. Bei den Druiden zum Beispiel, im fernen Albion, hatte der Bard, welcher es in seiner Kunst zur Meisterschaft brachte, den gleichen Stellenwert wie ein König. Ihm etwas anzutun, bedeutete die gleichen rechtlichen Konsequenzen zu ertragen, wie wenn man das Oberhaupt selbst verletzt hätte.

Daran sehen wir, wie wichtig und unverzichtbar Geschichten für die Menschheit waren. Märchen verbinden uns mit den tiefsten Ebenen unserer Seele, sie schaffen eine Brücke zu den Erfahrungsebenen, die nur schwer in Worte zu fassen sind. Erfahrungen wie Geburt und Tod oder die Zyklen des Lebens, die ein Mensch während seines Erdendaseins durchschreiten muss.

Viele unserer einstigen Märchen wurden allerdings vom Weltbild der letzten 2000 Jahren so stark in ein Wertekorsett gepackt, dass viel der ursprünglichen indigenen Bedeutung ins Gegenteil verdreht wurde.

Ich möchte deshalb einen Versuch starten, um die Geschichten etwas aus dem engen Kostüm patriarchaler Sichtweisen und Moralvorstellungen zu schälen. Es geht mir hierbei nicht darum, eine perfekte und allgemeingültige Neufassung aus schamanischer Sicht zu erstellen. Vielmehr ist es mir wichtig, Menschen zu inspirieren, ihre Kreativität zu entdecken, um die eigene Interpretation zu finden, was die Seelenbilder beinhalten könnten.

Die Hauptelemente und ihre schamanische Bedeutung.

Als die Geschichte beginnt ist Rotkäppchen nun in einem Alter, wo die Mutter sie guten Gewissens alleine in den Wald schicken kann um die alte Großmutter zu besuchen. Wäre sie noch ein kleines und unmündiges Kind, hätte die Mutter sie wahrscheinlich nicht ohne Begleitung losziehen lassen. Aber nun, da Rotkäppchen sich an der Schwelle zum erwachsen werden befindet, ist dies eine erste Initiation durch ihre Mutter, welche ihr Kind bevollmächtigt und im Vertrauen auf ihre zunehmende Reife, alleine in den tiefen Wald hinaus sendet. 

Der Wald ist seit jeher ein Ort der Magie und der Zwischenwelt. Genau wie im Traumzustand, passieren hier eigenartige und merkwürdige Dinge, die aus der Sicht der Alltagsrealität so keinen Sinn ergeben. Der Wald symbolisiert die Anderswelt, die Welt wo Trolle, Feen und Zwerge hausen und wohin Schamanen reisen. Sobald Rotkäppchen den Wald betritt, befindet sie sich in dieser anderen Realität. 

Anfänglich befolgt sie den Rat der Mutter, nur auf den bekannten Wegen zu bleiben. Doch schon bald gesinnt sich ein anderes Wesen an ihre Seite. Es ist der Wolf, welcher eines der wichtigsten schamanischen Krafttiere ist. Er ist instinktsicher, sowie ein weiser Führer und Lehrer. Schamanische Krafttiere, egal um welche es sich handelt, sind immer Ratgeber, Beschützer und Wegbegleiter. 

Mit dem Einzug der neuen Religion, aus dem Fernen Osten und ihrem ausgeprägten Polaritätsdenken von Gut und Böse, wurden alle einstigen Dinge, die bei der alten Naturreligion heilig waren, auf die Seite des Bösen gestellt. Nur der neue Glaube sollte als einzig guter und wahrer fortbestehen. 

Somit können wir davon ausgehen, dass es sich bei dem ursprünglich bösen Wolf um den guten Wolf handelt, dem weisen Seelenführer an Rotkäppchens Seite. Demzufolge schmiedet er auch keine Pläne wie er sie und ihre Großmutter vernichten könnte, sondern er blickt tief in ihre Seele und sieht, dass sie an der Schwelle zur Initiation steht. Die Schwelle die sie vom Mädchen zur Frau werden lässt.

Rotkäppchen befindet sich also am Ende ihrer Kindheit und an der Schwelle eines neuen Zyklus. Von ihrem Körper fließt in der Form des Umhangs schon das rote Blut der Göttin, das Menstruationsblut, das Lebensblut einer jeden Frau und hüllt ihr ganzes Sein ein. Die Symbolik liegt hier sowohl in der bildlichen Sprache als auch in einer übergeordneten Metapher, dass sie nun ganz in eine neue Energie eingehüllt ist. Der Wandel vom Mädchen zur Frau ist niemals nur ein rein äußerlicher Vorgang, es ist auch ein energetischer Vorgang, wo sich tief im Inneren des Mädchens etwas wandelt. Gefühlsmäßig ist und wird sie nie mehr die gleiche sein, sie ist nun selbst zur lebensspendenden Göttin geworden. Es ist die Art Tod und Wiedergeburt die sie durchschreiten muss, die jeder Initiation inne wohnt. Das alte Selbstbild muss sterben um Platz zu machen für ein neues. 

Hierbei hilft ihr, ihr weiser Seelenführer der Wolf. Als er spürt, dass sie reif ist, lenkt er sie bewusst, in die Tiefen des Waldes, abseits der bekannten Wege. Eine Initiation zu durchschreiten bedeutet immer unbekanntes Terrain zu betreten. Nun ist sie ganz alleine auf sich selbst gestellt. Sie ist verzückt, von der Schönheit des Waldes, welcher voller schöner Blumen steht. Dies ist ein Hinweis darauf, dass wir uns auf dem Höhepunkt des Frühlings befinden. Also die Zeit um den 1. Mai herum, wo die Kelten im Vollmond zur Weißdornblüte ihr Fruchtbarkeitsfest Beltane feierten. Auch Rotkäppchen lässt diese neu erwachende Lebensenergie nicht kalt. Sie pflückt einen großen duftenden Blumenstrauß um ihn der Großmutter als Geschenk mitzubringen. 

Als sie sich dem Haus der Großmutter nähert, welches unter drei großen Eichenbäumen steht, sieht sie dass die Tür weit offen ist. Die Großmutter ist natürlich keine alte gebrechliche Frau, so wie sie in dem Märchen dargestellt wird, sondern die große Urgöttin von Tod und Wiedergeburt, welche in einem heiligen Eichenhain, umringt von Haselnusshecken, anzutreffen ist. Die offene Tür und das beklemmende Gefühl Rotkäppchens, dass irgendetwas anders ist, ist für mich ein weiterer wichtiger Teil der Initiationsreise. Hat sie den Mut sich ihrem Schicksal zu stellen, oder lässt sie den Korb mit den Leckereien und dem Blumenstrauß im Schreck fallen und läuft schreiend nach Hause? Dies würde ihre Initiationsreise in die eigene Reife und Selbständigkeit unterbrechen und sie würde wohl noch einige Jahre an Mutters Rockzipfel hängen, bis sie erneut den Mut hat, sich den Initiationserfahrungen, welche uns das Leben bieten, zu stellen. 

Sie schafft es also, ihre Angst unter Kontrolle zu bringen und übertritt die letzte Schwelle, die Türschwelle des Hauses. Hier bemerkt sie, dass die Großmutter auf einmal ganz große Ohren, Augen und Hände hat. Es ist definitiv etwa anders, aber sie kann nicht genau sagen, was es ist, also fragt sie die Großmutter, warum sie so große Ohren, Augen, Hände und Maul hat?

Fragen zu stellen ist für mich ein Zeichen der Reife. Auch bei kleinen Kindern kann man dies beobachten, dass sie, sobald sie in die nächste Entwicklungsstufe übergehen, interessiert ihre Umgebung beobachten und ihre Eltern mit einer Vielzahl ausgefallenster Fragen überschwemmen.

Es könnte auch sein, dass sich Rotkäppchens Bewusstsein, durch ihre Reise durch den Wald verändert hat. Eine schamanische Reise hat auch immer etwas mit einer Bewusstseinserweiterung zu tun, vor allem, wenn man diese mit psychoaktiven Substanzen wie Pilzen, Trüffeln oder Pflanzen unterstützt. Hat Rotkäppchen “berauscht” von den schönen Blumen, vielleicht von der einen oder anderen psychoaktiven Pflanze genascht? 

Wie auch immer, Rotkäppchens Schicksal nimmt ihren Lauf und der Wolf verschluckt sie mit seinem riesigen Maul. Sie ist nun tief im Bauch des Tieres. Im Schamanismus sind Zerstückelungsträume immer ein Zeichen, dass es sich um einen echten Schamanen handelt. Ich selbst hatte einmal einen tief erschreckenden Traum, als ich träumte, dass ich von einem Löwen aufgefressen wurde. Er hatte ein riesiges Maul, und fühlte sich, ganz wie der Wolf übermenschlich groß an. Und genau wie in Rotkäppchens Märchen, ging alles blitzschnell, es gab keine Möglichkeit dem auszuweichen. 

Dies war damals zutiefst beängstigend für mich, auch weil sich der Traum extrem klar und realitätsecht anfühlte. Monate später las ich dann, dass solche Träume, Teil einer schamanischen Einweihung sind. Und wenn ich jetzt zurück blicke, dann weiß ich dass ich diesen Traum, genau während meiner schamanischen Ausbildung hatte.

Ist Rotkäppchen also auch eine Schamanin? Ist sie sogar eine Kräuterkundige, so wie ihre Großmutter, die große Göttin, welche tief im Wald lebt? Ist Rotkäppchens Märchen vielleicht die Erzählung einer schamanischen Reise in die Anderswelt, während sie unter dem Einfluß psychoaktiver Substanzen stand?

Bei dem Namen Rotkäppchen, muss ich auch immer an den Fliegenpilz denken. Wenn der Pilz noch relativ jung ist, dann sieht er für mich, wie ein junges Mädchen, mit bleicher Haut und einem roten Umhang aus. Der Fliegenpilz ist ja auch, entgegen der landläufigen Meinung, nicht so giftig wie angenommen und verfügt über psychoaktive Eigenschaften. Gerade bei den Druiden und sibirischen Schamanen, war er das Mittel der Wahl, um die Bewusstseinserweiterung bei schamanischen Reisen zu unterstützen.

Hat Rotkäppchen vielleicht ihren Namen daher, da sie genau weiß, wie man die Kraft dieser Pilze nutzt?

Nachdem Rotkäppchen nun von dem Wolf verschluckt wurde, kommt ein junger Jäger vorbei und schneidet dem Wolf den Bauch auf, so dass Rotkäppchen und die Großmutter wieder freigesetzt werden. Der Bauch, auch wenn es sich in diesem Fall, um den Bauch des Wolfes handelt, ist seit jeher ein Symbol für den schwangeren Leib, der das neue Leben gebärt. Rotkäppchen wurde also durch die Kraft der Transformation neugeboren. 

Und da Rotkäppchen jetzt eine junge Frau geworden ist, wird sie sich vielleicht in den jungen mutigen Jägersmann verlieben? Und somit ist sie ganz in dem neuen Zyklus als Frau angekommen, welcher die erste große Liebe, Sexualität, Heirat, Ehe und Mutterschaft beinhaltet. 

Wenn sie wieder aus dem Wald zurückkehrt, wird sie eine andere sein. Das Rad des Lebens hat sich gedreht und das Kind zur Frau gemacht.

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