Spirituelles Bypassing und warum es so verletzend sein kann

Spirituelles Bypassing und warum es so verletzend sein kann

Es gibt Situationen im Leben, in denen nichts mehr heile Welt ist. Menschen erleben Verluste, die ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie verlieren geliebte Menschen, manchmal völlig unerwartet und auf tragische Weise. Wer einmal miterlebt hat, wie tief ein solcher Schmerz geht, wie existenziell der Überlebenskampf danach ist, versteht unmittelbar, dass in solchen Momenten kein Platz für Sätze ist wie: Du musst nur positiv denken oder Alles geschieht aus einem höheren Grund.

Solche Aussagen wirken nicht tröstend, sondern wie ein Schlag ins Gesicht. Sie legen sich wie ein Deckel auf das, was gerade gefühlt werden muss. Sie vermitteln unterschwellig, dass die schweren Gefühle minderwertig seien, dass Schmerz nicht sein dürfe und dass der richtige spirituelle Weg darin besteht, sich möglichst schnell wieder auf Licht und Liebe auszurichten.

Diese Reaktionen sind ein Beispiel für ein Phänomen, das der Psychotherapeut John Welwood geprägt hat. Es nennt sich spirituelles Bypassing. Gemeint ist der Versuch, unangenehme emotionale Prozesse zu umgehen, indem man sie mit spirituellen Floskeln oder positiven Glaubenssätzen überdeckt. Das Problem ist, dass dieser Mechanismus Heilung nicht fördert, sondern verhindert.

Wenn ein Mensch durch eine tiefe Krise geht, entstehen natürliche emotionale Reaktionen. Dazu gehören Wut, Traurigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit oder das Gefühl, völlig am Boden zu liegen. All das sind Bestandteile eines regulären Trauer- oder Heilungsprozesses. Diese Emotionen haben eine Funktion, denn sie zeigen, was verletzt wurde und was innerlich gesehen werden muss. Sie sind kein Fehler im System, sondern Bestandteil der Verarbeitung.

Viele Menschen in spirituellen Kreisen haben jedoch große Schwierigkeiten, diese starken Gefühle auszuhalten, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen. Statt den Raum für schmerzhafte Emotionen offen zu halten, versuchen sie, möglichst schnell wieder auf das Positive umzuschalten. Bleib einfach im Vertrauen, halte die Frequenz hoch oder richte dich auf das Licht aus sind typische Sätze, die in solchen Situationen fallen. Diese Aussagen sind oft gut gemeint, wirken jedoch wie ein Versuch, das Unangenehme möglichst schnell aus dem Raum zu entfernen.

Warum machen das Menschen? Oft, weil sie ihre eigenen schweren Gefühle nicht ertragen. Wer in sich selbst ungelöste Konflikte, Kindheitswunden oder unbewältigte Traumata trägt, reagiert meist besonders stark auf die intensiven Emotionen anderer. Statt sich dem eigenen Schmerz zuzuwenden, wird er übertüncht. Das Muster lautet dann so etwas wie, wenn ich mich nur konsequent positiv ausrichte, muss ich mich nicht mit dem befassen, was in mir noch ungeklärt ist.

Spirituelles Bypassing ist also kein Ausdruck von Stärke. Es ist ein Schutzmechanismus, der unangenehme Gefühle vermeidet. Für Menschen, die sich gerade in einem tiefen Prozess befinden, ist dieser Mechanismus jedoch hochgradig verletzend. Denn er vermittelt ihnen, dass ihre Realität nicht sein darf, dass ihre Gefühle nicht richtig sind und dass sie schneller heilen sollen, als es möglich ist.

Heilung braucht Zeit, Tiefe und die Bereitschaft, durch die schweren Emotionen hindurchzugehen. Erst wenn diese Ebenen gesehen und durchgearbeitet sind, fügen sich die Puzzlestücke des eigenen Lebens wieder zusammen. Erst dann entsteht wieder Freude, Hoffnung und eine echte positive Ausrichtung, die nicht aus Vermeidung entsteht, sondern aus innerer Klarheit.

Spirituelles Bypassing hingegen ist eine Abkürzung, die keine ist. Es ist ein Versuch, den Schmerz zu umgehen. Doch echter Heilungsweg bedeutet, sich ihm zuzuwenden und genau die Emotionen zu durchleben, die so schwer auszuhalten sind. Denn erst dort beginnt der Wandel, der aus einem echten Prozess entsteht und nicht aus einem Deckmantel aus Licht und Liebe.


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